Leseproben 2 - DAS MEDAILLON - IM STRUDEL DER ZEIT

aus mittendrin

Carlo legte die Bilder auf den Tisch.
„Warte“, bat Malon. „Wir sollten das gleich für unsere Freunde aufzeichnen, nicht, dass wir alles hinterher aus dem Gedächtnis erzählen müssen.“
Anja fuhr sich durch Haar, was dadurch verwuschelt aussah, Herr Rosenthal starrte sie an und sagte: „Liebes, schau, Frau Holm sieht aus wie die liebreizende Isabella Bretoni. Weißt Du noch, wie sie immer den ersten Dienstag im Monat, zum Kaffeetrinken bei uns war? Wie sehr wir ihre Geschichten liebten?“
„Ich sagte es bereits unten vorm Haus mein Lieber“, tadelte sie ihn sanft. „Du warst anscheinend wieder mit deinen Blick rundherum spazieren gegangen.“

Sonja die gerade ihren Laptop öffnete, hatte diese kleine Ansprache gehört, hmmm das war ja interessant, ergab aber auch wieder neue Verwicklungen. Malon tippte was. Kannst du Anja mit kürzeren Haaren und solchen Locken wie man sie um jene Zeit getragen hat, malen? Versetze Anja einfach in jene Zeit und schick mir das Bild.
Was versprichst du dir davon?, fragte Sonja ihrerseits nun tippend.
Ich weiß noch nicht, es ist noch nicht fassbar, antwortete Malon. Es kann uns aber weiterhelfen schätze ich mal.
Gut, dann mache ich es, tippte Sonja.
Jetzt bitte, schrieb Malon.
Grmpf. Na gut.

Malon sah, wie Sonja nach Block und Stiften griff und anfing. Carlo hatte mittlerweise die Bilder, die er und Anja entwickelt hatten, auf dem Tisch ausgelegt. Christina hatte die Tafeln die sie mit den bereits gewonnenen Informationen bestückt hatten, aus dem Nachbarzimmer geholt.
Fertig, tippte Sonja. Ich schick es dir jetzt. Muss dann aber nach Iris sehen, die ist immer noch durch den Wind.
Danke, tippte Malon, begab sich dann in ihr Arbeitszimmer und druckte das Bild aus. Wirklich verblüffend diese Ähnlichkeit. Sie holte eine neue Tafel herbei und befestigte das Bild von Anja auf dieser. Noch schenkten die anderen dieser Tafel keine Aufmerksamkeit.

Es waren sehr schöne Aufnahmen, die auf der Kamera waren und die Zeiten so überdauert hatten. Die ersten Bilder waren wohl jene Bilder, wegen denen damals Alexander Bretoni verhaftet worden war.
Sie zeigten ihn im Widerschein der Gaslaternen als Schatten, wie er den Führer bei einem Stelldichein mit einem sehr schönen Mann zeigte. Einem Mann, der sich küssen ließ und wie beide auf die dort stehende Ottomane niedersanken. Bilder, die, wären sie erschienen, ihm den Kopf gekostet hätten.
„Und doch, irgendwas ist komisch daran“, meinte Christina. „Irgendetwas stört mich daran.“
„Sie haben recht“, entgegnete Herr Rosenthal, der sich die Bilder auch genauer ansah. „Das ist ein Stück aus dem Schmierentheater.“
„Wie?“, fragte Carlo.
„Der Schönling ist eine Frau, zurecht gemacht wie ein Mann“, erläuterte Herr Rosenthal. „Und der andere, der den Führer spielt, ist größer, die Schultern hängen nicht so, das Haar, ist voller, lockiger.“
Anja griff nach den Bildern. „Stimmt“, sagte sie nach einer Weile. „Mich würde es nicht wundern, wenn für diese Schmierenkomödie sich auch wieder die schöne Helena hergegeben hat. Und zusätzlich das Gerücht um den Verräter in die Welt gesetzt hat. Sie hat wirklich mit allen schmutzigen Mitteln gekämpft, um ihren Schwager zu bekommen.“
Weitere Bilder zeigten schöne Plätze der Stadt, die heute kaum wieder zu erkennen waren. Auch die Monumentalen Gebäude die in dieser Zeit entstanden waren, um Größe und Macht zu demonstrieren. Aufmärsche am Rande und jene, die niedergeknüppelt wurden, wenn sie nicht den Arm hoben und wieder, wie ein Schatten eindeutig zu erkennen, Helena von Lohen.
„Sie muss ihm, dem Führer sehr nahe gestanden sein, um soviel Macht in den Händen zu halten“, sinnierte Herr Rosenthal. „Sie muss dafür aber schon sehr zeitig mit angefangen haben, sich in diesen erlauchten Kreis, um ihn herum zu bewegen. Und doch, ist sie auf offiziellen Bildern immer sehr im Hintergrund, wenn überhaupt. Eine Spinne die ihr Netz fein gewoben hat, um im richtigen Moment zuzuschlagen.“

Dann das Bild, das Frau Buske gemacht hatte, das Bild einer glücklichen Familie Bretoni. Der Blick, den Alexander Bretoni seiner Frau schenkte, man spürte die Liebe, die diese beiden Menschen verband geradezu. Die Hände, die mit denen der Tochter verschlungen waren, die stolzen, zärtlichen Blicke die auf Leandrah lagen.
Noch ein weiteres Bild, das war wohl auch noch von Frau Buske gemacht worden, ein Schreckfoto, dass die Situation festhielt, wie der Herr Bretoni in den Wagen gezerrt wurde. Und Isabella, so wie auch ihre Tochter, starr vor Schreck waren. Carlo stellte fest: „Anja und ich waren auch verblüfft, denn Frau Buske hatte ja nur von einem Foto der Familie Bretoni geschrieben. Wahrscheinlich ist dieses Bild ein Zufallstreffer, jetzt aber, in der Gesamtheit noch mal um so wichtiger, schaut Euch mal die andere Straßenseite an. Dieser Schatten, dieser schwarze Hut, die Handschuhe, die Gestalt an sich, das ist...“
„Helena von Lohen, eindeutig, hier in Hosen und Stiefeln“, beendete Christina den Satz. „Dann war das Luder so, als wenn sie nicht genau wusste was geschehen war, bei der Frau Buske um ihre Nichte abzuholen. Unfassbar.“

Frau Rosenthal fragte, ob denn Isabella wohl ihre Schwester gesehen oder erkannt habe.
„Kaum“, meinte ihr Mann daraufhin. „Sie war geschockt, ihre Haltung drückt das hier auf dem Bild eindeutig aus.“
Malon hatte dieses untrügliches Gefühl, das jetzt etwas geschehen musste. Sie nahm Sonjas Bild von der Wand, stellte sich neben Anja auf, das Bild neben sie haltend. Es war ein Experiment, was würde geschehen?
Carlo und Christina hielten den Atem an.
„Isabella“, fragte Malon da. „Du warst geschockt das wissen wir, hast du aber irgendetwas gesehen, was sich trotz des Schocks in dein Gedächtnis eingebrannt hat, was du aber nicht glauben wolltest, weil es dir zu abstrakt erschien? Isabella, erzähl uns, was du gesehen hast...“
Carlo schob ihr das Foto hin, auf dem ihr Mann in den Wagen gezerrt wurde. Anja starrte darauf.
„Ich schaute um mich“, kam es aus ihrem Mund. „Ich sah auf der anderen Seite Helena... Aber das konnte nicht sein.“
Malon fragte wieder: „Warum hast du sie nicht gerufen?“
„Ich weiß nicht, ich habe es verdrängt, denn ich konnte nicht glauben was ich sah, sie machte diese Handbewegung zum Wagen hin, das sie abfahren sollten und der Mann im Wagen salutierte ihr... Ich verstand es nicht. Vielleicht habe ich das Gesehene deswegen verdrängt. Ich wusste nur, ich muss mit Leandrah schnell nach Hause.“
„Wann?“, fragte Malon. „Wann, Isabella, ist dir klar geworden, dass hinter all diesen deine Schwester Helena stand?“
Carlo und Christina, ebenso wie die Rosenthals, schauten Anja an, deren Stimme sie wirklich an jene der Isabella erinnerte.
„Wann?“, fragte Malon erneut.
„Spät, zu spät“, flüsterte Isabella. „Ich habe mir immer eine gute Menschenkenntnis zugetraut, aber vielleicht ist man gegenüber der Familie einfach zu blind. Helena hat sich schon früher als Kind alles genommen, was sie wollte. Sie hatte ständig Ärger mit ihren Freundinnen, denen sie die Freunde, kaum dass diese sie ihr vorgestellt hatten, ausspannte. Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie Alexander wollte. Sie hat doch gesehen, wie glücklich wir sind und Leandrah die Krönung unserer Liebe war. Ich hatte allerdings dort in den Wäldern ein komisches Gefühl, die Stimme die die Häscher antrieb... Aber Klarheit hatte ich erst in diesem Runkelkeller, als sie diese lostrat und unser Kind tötete.“
Sie begann zu weinen.
Malon nahm das Bild wieder weg, nahm stattdessen Anja in den Arm, streichelte sie.
„Mach weiter“, forderte Anja plötzlich. „Auch wenn ich jetzt nicht weiß, warum du das tust, aber es ist schön.“ 

aus mittendrin

Erik schaute nach Tante Elfriede.
„Es gab einige“, sagte sie. „Auch meine Eltern, die gegen diese Frau wetterten, sich nicht von ihr einfangen ließen. Dann wurde man allerdings schikaniert. Wir hatten damals noch den Kaufladen, Warenlieferungen blieben aus, Fenster wurden eingeworfen etcetera und sie, sie stolzierte dann im Laden herum, ganz feine Dame und ach so erschrocken, Was ist denn hier passiert? Allein wenn sie sich von diesen Begleitern fahren ließ, dieses Winken, diese Herablassung und diese Gnadenlosigkeit.
Weißt du noch Karl, als deine Tochter Schwierigkeiten hatte mit der kleinen Ziege die sie auf die Weide bringen sollte?“
Karl biss sich auf die Lippe. Elfriede fuhr fort. „Die kleine Marie träumte so vor sich hin und wurde mit einem Mal angefahren: Die Ziege habe auf dem Gehweg nichts verloren. Die Kleine verstand es nicht, führte sie doch jeden Tag die Ziege so auf die Wiese. Sie, Helena von Lohen, ließ sich von einem der Begleiter eine Waffe gegeben und erschoss vor dem Augen der Kleinen die Ziege. Marie dann, als sie es begriff, stürzte sich auf diese Frau, boxte, tobte, schrie. Diese Frau befahl zwei weiteren Begleitern die Kleine auf die Mauer vorn zu legen, ließ sich eine Reitgerte geben und schlug zu. Fünfundzwanzig Schläge. Dann ging sie.“
Sascha schluckte, Iris auch.

„Und?“, fragte sie dann heiser. „Hast du dich dann immer noch bezahlen lassen für irgendwelche Aktionen, oder hast du dann Schneid genug gehabt, auszusteigen.“
„Du stellst dir das so leicht vor Iris“, antwortete er. „Die Zeiten waren nicht mit den heutigen zu vergleichen.“
„Sind sie nie“, konterte Iris. „Aber Zivilcourage sollte zumindest nicht aussterben. Deine Tochter hatte sie, was macht sie denn heute?“
„Sie ist bei der Polizei“, sagte Karl langsam.
„Bei der Polizei?“ Iris schluckte. „Doch nicht hier in der Gegend?“
„Doch, doch, Iris, du kennst sie ja recht gut.“ Er lächelte jetzt. „Sie hat dich ja einige Male verfolgen können.“
Er erinnerte sich, als seine Tochter Iris mal wieder gestellt und ihren Vater, einen Kollegen, informiert hatte. In der Zwischenzeit hatten sie und Iris sich gut unterhalten.
„Kluges Mädchen“, hatte sie gesagt gehabt. „Die weiß was sie will.“
Er hatte ihr Recht geben müssen.

„Kommen wir auf unseren Ausgangspunkt zurück“, sagte Iris. „Helena von Lohen. Habt ihr noch irgendwas schriftliches von ihr, Bilder oder so? Sucht bitte zu Hause danach und gebt es bei Elfriede ab. Jeder Hinweis ist wichtig für uns. Wie lange ist sie übrigens hier gewesen?“
„So ein dreiviertel Jahr etwa“, sagte jemand aus der Runde. „Dann waren ja diese Prozesse in Berlin und dann war sie mit einen Mal weg, sie sah sehr zufrieden aus.“
„War sie nur hier in Hemeln oder sonst noch in der Gegend?“, fragte Iris plötzlich.
„Sie war hier in der ganzen Gegend von Berlin über Braunschweig, Hildesheim, Hannover bis nach Göttingen und Hann. Münden. Wir bekamen teilweise Militärfahrzeuge gestellt, um nach dieser flüchtigen Frau und deren Kind zu suchen. Wir sollten schließlich dafür sorgen, dass sie nicht mehr auftauchte.“
Sascha presste die Lippen zusammen.
„Geht nach Hause“, forderte Iris sie auf. „Und sucht, wir Deutschen heben ja gerne auf, auch wenn es uns in Schwierigkeiten bringen kann.“
„Gute Nacht“, schloss sie. „Ich muss erst mal einiges verdauen.“

Sie ging in ihr Zimmer und zog sich um. Öffnete, als sie raus ging, ganz leise die Tür zu Leandrahs Zimmer. Hörte deren Atemzüge, schloss die Tür wieder. Die Männer saßen noch in der Gaststube, als Iris sich leise vorbei stahl. Sie brauchte jetzt Zeit für sich allein, das war viel gewesen heute, vor allem wenn man bedachte, wie ungezwungen sie alle hier aufgewachsen waren.
Nicht ahnend was sich in der Vergangenheit hier abgespielt hatte. Moralapostel waren sie gewesen, sie kickte wütend einen Stein vor sich her.
„Du darfst sie nicht verurteilen, die meisten Menschen sind schwach“, hörte sie eine Stimme neben sich. „Sie haben geglaubt etwas Gutes zu tun.“
„Das ist nicht fair Onkel Gustav“, klagte Iris.
„Woher weißt du, dass ich es bin?“, fragte er überrascht.
„Du warst immer da, wenn eine von uns sich so soooooo hilflos gefühlt hat“, sagte Iris leise. „Du hast uns immer beschützt.“
„Das habe ich“, bestätigte er.
„Warum hat niemand Leandrah und ihre Mutter damals beschützt?“, fragte sie.
„Manche Dinge müssen geschehen“, antwortete er. „Und du hast es dem Sascha heute doch auch schon gesagt. Ihn würde es nicht geben, wenn all diese furchtbaren Dinge nicht geschehen wären. Alles Iris, alles auf der Welt erlebt seine Bestimmung.
Du hast es ihm gesagt und ich habe mich über deine Worte gefreut. Euch fünf Mädchen hätte es in dieser Konstellation ebenfalls nicht gegeben, wenn all das andere nicht geschehen wäre. Heute wird eure Zusammengehörigkeit einmal mehr auf die Probe gestellt, und so wie es aussieht, meistert ihr das wirklich Hand in Hand.“

„Selbst Sascha...“, fuhr Onkel Gustav fort. „... wird aus dieser Sache gestärkt herausgehen, es wird ihn reifen lassen. Wusstest du, dass er Anja einen Heiratsantrag gemacht hat, gleich am ersten Abend?“
„Oh Mann, und ich war auf Sendung und konnte nicht ins Cafe kommen und habe daher von Sonja nur die Informationen bekommen, die diese für wichtig hielt. Anja und Sascha, hmmm... Das könnte gut gehen, die beiden passen zueinander. Sie ist richtig gut und seit sie ihren Style umgeworfen hat, ist sie auch sonst richtig taff“, sagte Iris. Ganz übergangslos fragte sie dann: „Warum hat der weiße Hirsch mir den Nebel des Vergessens geschickt?“
„Wenn du schon weißt was es ist, wirst du auch dahinter kommen wofür er gedacht war“, antwortete dieser seinerseits jetzt überrascht, dass Iris das so aufgefasst hatte.

„Es hat mit Sonja zu tun“, sagte Iris nachdenklich. „Ich will da jetzt aber nicht nachhaken, keine Sorge, nur Malon, Anja und ich haben uns schon unsere Gedanken gemacht, damals. Leandrah hatte andere Dinge im Kopf die hat das wahrscheinlich nicht mitbekommen.“
„Na nun, jetzt habe ich dich nach Hause begleitet“, sagte Iris überrascht.
„Unser Gespräch war wichtig, und du bist von deinen quälenden Fragen weggekommen. Ihr macht alles richtig, wie ihr es macht, ich bin sehr stolz auf euch alle. Solange ihr die Freundschaft hütet wie einen Schatz, solange seid ihr stark, niemand kann Euch so etwas anhaben. Komm her, du rothaariger Kobold.“ Er schloss sie fest in seine Arme, drückte sie.

 

 

 

aus Mittendrin

 

Das Medaillon

Eine weitere halbe Stunde verging und Leandrah sagte plötzlich: „Bringen wir es hinter uns.“

Sie standen alle langsam auf und gingen bis auf Iris, die noch einmal zu Tante Elfriede eilte und meldete, dass sie jetzt nach hinten gehen. Sie schlossen die Tür hinter sich.

Leandrah atmete langsam tief ein und aus.

„Wir sind alle bei dir“, flüsterte Bastian, der sie liebevoll in den Arm nahm.

Sonja ging an den Schrank, dort wo sie die Tasche Alexander Bretonis aufbewahrte seit gestern, schloss ihn auf und entnahm diese. Erik, Ben und Thomas hatten ihre Laptops mit Cam für Malon in verschiedene Blickwinkel gestellt und zeichneten so auf.

Sonja legte die Tasche auf den Tisch, alle warteten jetzt gespannt was geschehen würde. Bastians Stimme veränderte sich, er näherte sich dem Tisch und griff überrascht nach der Tasche. „Meine Tasche hat überlebt, mich überlebt.“

Er wandte sich an Erik. „Wer sind Sie und die anderen Personen hier im Raum?“

„Gute Freunde“, antwortete Erik.

„Freunde....“ Er zog das Wort lang.

„... sind in dieser Zeit Mangelware. Niemanden kann man mehr richtig trauen“, sagte Alexander, alias Bastian, bitter.

„Anja Holm“, stellte diese sich vor. „Und ich bin die Freundin von Sascha Bretoni.“

Damit schob Anja Sascha nach vorn.

„Bretoni?“ Er zog die  Augenbraue hoch...„Ich bin, soweit ich unsere Ahnentafel kenne, der letzte Bretoni. Alexander Bretoni um genau zu sein, verzeihen Sie bitte, wenn ich es versäumt habe mich vorzustellen.“ „Was machen Sie beruflich?“, fragte er dann Sascha interessiert.

„Ich bin Fotograf“, sagte dieser. „Und Anja ist Journalistin.“

Überrascht wandte sich Alexander wieder Anja zu. „Ich wollte es ihnen vorhin schon sagen, aber dann haben Sie mir ja gleich ihren Freund vorgestellt, Sie sehen meiner geliebten Isabella sehr ähnlich, auch sie war Journalistin.“

Diese Tatsache hatten die anderen vergessen Simon Bretoni zu erzählen, der jetzt zusammenzuckte. Er taumelte, Sascha drehte sich um und fing seinen Vater auf. Er geleitete ihn zu einem Stuhl, hieß ihn sich zu setzen. Thomas brachte ein Glas Wasser, setzte es ihm an die Lippen. Alexander sah diese Fürsorge, fragte, wer jener ältere Herr sei.

„Simon Bretoni, er ist mein Vater“, erwiderte Sascha.

„Wir sollten...“, sagte Ben, der das Gefühl hatte, es würde vom hauptsächlichen abgelenkt. „... uns der Tasche widmen.“

„Oh ja, ja, aber diese vielen neuen Bretonis verwirren mich, das verstehen Sie doch sicher. Ich war der letzte meiner Familie und diese ist von einer berechnenden, neidischen, intriganten Frau, die einst meine Schwägerin war, vernichtet worden. Sie hat mich angeblich getröstet, daher habe ich sie in meinem Schmerz geheiratet. Dann fand ich, als sie unterwegs war zum Arzt, diese Papiere, diese Wegbeschreibungen, Anordnungen und so machte ich mich auf den Weg, den Spuren meiner einzig wahren Liebe und meiner Tochter zu folgen. Der Tod schreckte mich nicht mehr, als ich erfuhr auf meinem langen Weg, welch infames Spiel Helena, die jetzt meinen Namen trug, ihrer Schwester und Nichte angetan hat. Ich wollte nur wieder mit ihnen vereint sein.“

Sascha sah, wie blass sein Vater war. Auch Thomas machte sich Sorgen um den alten Herrn. Alexander öffnete jetzt die Verschnürung der Tasche. Zog seine Tagebücher heraus.

„Ich habe seit meiner Festnahme alles aufgeschrieben“, erklärte er. „Auch jede Etappe der langen Suche. Dies hier sind Leandrahs Hefte, die sie geschrieben hat, dort wo sie die letzten Monate ihres ach, so jungen Lebens verbrachte. Ich habe sie in meiner letzten Nacht gelesen, ich dachte nur, so viele Tränen kann kein Mensch haben... Meine Tochter, wie gern hätte ich sie in meinen Armen gehalten und getröstet, sie war mein kleiner Sonnenschein.“

Tränen perlten an seiner Wange hinunter.

Sonja ging zum Tisch, nahm eines der Hefte und reichte es Leandrah. Diese, erst verblüfft, griff zu.

„Papa warum weinst du?“ Sie schmiegte sich an Bastian alias Alexander.

„Mein Kind“, flüsterte dieser. „Bist du es wirklich? Ist es keine Einbildung, kein Wunschdenken? Ich kann dich noch einmal in meinen Armen halten, mein Sonnenschein.“

„Bitte Alexander, du weißt worauf es ankommt, bitte übergib uns das Medaillon“, forderte Ben. Alexander nickte, griff zu dem nächsten Bündel Hefte, sowie ein verschließbares Tagebuch. In einer Seitentasche fand sich der Schlüssel hierfür und jetzt fiel aus den vielen zusammengedrückten Seiten ein kleines bordeauxrotes Samtbeutelchen.

Sonja war neben Anja getreten mit ihrem gemalten Bild von Isabella Bretoni. Anjas Augen leuchteten auf.

„Das Medaillon der von Lohens“, sagte sie leise, als sie den Beutel aufhob und öffnete. „Es hat die Jahre überdauert, und es hat gewartet auf dich.“

Sie trat an Leandrah heran. „Es gehört dir. Denn ich weiß, dass du, meine Tochter, zurückgekommen bist in das Haus, ich habe vor meinem selbst gewähltem Tod darum gebeten. In jener Nacht als du in meinen Armen starbst, mein geliebtes Kind. So viele Tränen, so viel Schmerz, ich habe soviel verloren in dieser Nacht. Meine Gebete indes wurden erhört, dass wir uns wieder begegnen, damit ich dir unser Medaillon geben kann. Dieses Medaillon, so musst du wissen, ist ein sehr, sehr altes Stück. Einst soll es eine Vestalin von dem Mann erhalten haben, der auf sie gewartet hat bis ihr Dienst beendet war. Ein Medaillon aus dem Hause Anello. Mit Schmuck aus diesem Haus hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Er kommt immer wieder zu seinem Besitzer zurück, manchmal nicht gleich, manchmal dauert es Jahre. Meine Mutter schenkte ihn mir, wie du weißt und ich wollte ihn dir schenken, wenn der Zeitpunkt gekommen ist. Dieses wurde von deiner Tante Helena vereitelt. Meine eigene Schwester hat uns alle verraten, sie war es, die gegen die Rüben trat, dass du mein Herzblatt...“ Sie nahm Leandrah in die Arme. „Dass du...“

Dicke Tränen liefen an ihren Wangen hinunter.

„Du hast mich mit deinen Körper geschützt“, sagte Leandrah da leise. „Du hast mir so viele Geschichten erzählt, leise flüsternd. Mit dem wenigen Wasser was wir nur noch hatten, hast du mir die Wickel immer wieder gemacht, damit mein Fieber runter ging. In Gedanken waren wir bei Papa.“

„Ja“, bestätigte Anja, alias Isabella. „Das waren wir.“

Sie griffen beide nach Bastians Hand. Er trat näher, auch aus seinen Augen liefen heiße Tränen.

„Isabella, meine geliebte, einzig geliebte Frau, wie schön, dass ich noch einmal dein wunderschönes Antlitz mit meinen Händen umfangen kann, in deine wunderschönen Augen sehen kann, die unsere Tochter von dir geerbt hat.“ Er senkte den Kopf und küsste Anja. Ihre Lippen lösten sich wieder, er hielt Leandrah an den Hüften und wirbelte sie herum. „Wir sind wieder vereint.“

Das Glück strahlte aus ihren Augen. Iris stupste Sascha an. „Mach Fotos, bitte.“

Er nickte, nahm seine Kamera und schoss Foto um Foto.

„Unser letztes Foto, Papa, unser Famlienfoto, du hast deine Kamera vergessen.“

„Vielleicht war das besser“, so murmelte er leise.             

„Ein Foto von dem netten Fotografen, bitte Papa“, bettelte Leandrah.

„Würden Sie?“, fragte Alexander Sascha. „Würden Sie ein Foto von mir und meiner Familie machen?“

Sascha wollte etwas sagen, aber Ben schüttelte den Kopf.

„Sicher doch“, sagte Sascha daher. „Stellen Sie sich in die gewünschte Position und dann lächeln.“

Leandrah vor ihren Eltern, zu beiden hoch schauend. Das Glück dieser kleinen Familie war unverkennbar. Isabella schmiegte sich an Alexander. „Wie schön wieder in deinen Armen zu liegen.“

Leandrah war mit ihrem kleinen Samtbeutel zu Sonja gelaufen und gab ihn ihr. „Bitte pass darauf auf.“

„Mache ich“, versprach diese. Sascha schoss Bild um Bild von Anja mit Bastian, und Leandrah. Jetzt legte er die Kamera ab.

„Ein schönes Paar, fürwahr“, sagte er, während sein Herz blutete.

Leandrah drehte sich zu ihrer Mutter um. „Wo ist denn die schöne Schachtel mit dem blutrotem Samt, in der das Medaillon immer drin war?“

Anja lächelte sie zärtlich an. „Da habe ich Münzen hineingetan, und dann der guten Frau die uns so freundlich aufgenommen hat, gegeben.“

Leandrah umarmte Anja. „Sie war gut zu uns.“

„Ja, das war sie.“ Anja küsste Leandrah zärtlich auf die Stirn.

„Warum...“ fragte dann Alexander ernst. „... hast du Isabella...?“

Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. „Nur mein Tod konnte dir die Freiheit wiedergeben, das habe ich in jener Nacht begriffen und niedergeschrieben für dich. Ich wusste tief in mir, das du uns suchen würdest. Deshalb habe ich in meine letzten Aufzeichnungen das Medaillon gelegt. Wie konnte ich denn ahnen, das die Suche nach uns, dich wieder mit uns vereint?“

„Nichts habe ich mir sehnlicher gewünscht“, flüsterte er. „Helena hat dich als ihre letzte Verwandte für tot erklären lassen, denn euer Bruder der Gut Lohen noch immer bestellt, war in Gefangenschaft geraten und kam spät schwerverwundet zurück. Seine Frau hatte das Gut so weit es ihr möglich war weiter geführt. Mich haben sie verhört, immer wieder, aber ich wusste doch nichts. So eingesperrt zu sein, eine schlimme Erfahrung, dabei hoffte ich so sehr, das ihr es schafft. Wer konnte denn ahnen, dass wir alle zum Spielball von Helena wurden.“

Ben gab Sascha ein Zeichen weiter Bilder zu schießen.

Iris/Helena

Dann nickte Ben Sonja zu. Diese entnahm aus einer ihrer Kisten jetzt ein Utensil, das nachweislich Helena gehört hatte und rief: „Iris fang auf.“

Iris griff danach und ihre Augen sprühten jetzt Funken.

„Sieh mal an, die Familie ist wieder vereint. Da komme ich ja gerade richtig zum Plausch. Nun mein lieber Mann...“ Wandte sie sich an Alexander. „Was ist dir eigentlich eingefallen einfach deine Sachen zu packen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden? Ich wollte dir, doch eine frohe Nachricht überbringen, denn unsere Hochzeitsnacht hatte Folgen. Ja, schau nicht so. Ich habe dir einen Sohn geschenkt und damit den Erhalt des Namens Bretoni gesichert.“

Alexander schluckte. „Das... Das wusste ich nicht.“

„Wie denn auch?“, höhnte Helena. „Endlich war Isabella mit Leandrah aus dem Weg und ich konnte dir die Freiheit wiedergeben.“

„Freiheit...“, stöhnte Alexander. „Du hast dafür gesorgt das meine Familie den Tod fand! Du hast nur...“

Er konnte den Satz nicht beenden, da Helena lapidar einwarf: „Im Krieg und in der Liebe ist jedes Mittel recht.“

„Und ja, ich wollte dich. Vor allem wollte ich dich, weil meine...“ Sie spuckte es regelrecht aus. „... heißgeliebte Schwester vom Schicksal immer begünstigt wurde. Für unsere Mutter gab es in erster Linie immer Isabella, dann Michael und dann erst mich. Isabella bekam das wunderschöne Medaillon. Wo ist es überhaupt? Hast du es gefunden, gib es mir, es steht immer einer von Lohen zu.“

„Genau“, mischte sich Isabella jetzt ein. „So ist es. Ich gab es Leandrah, meiner Tochter und rechtmäßigen Erbin dessen.“

„Deine Tochter, meine liebreizende Nichte.“ Helena lachte auf. „Sie ist tot wie du, tot und vergessen.“

„Leandrah...“, sagte Isabella. „... ist wiedergeboren und hat heute von mir das Medaillon erhalten. Ich habe dir immer geglaubt, wie konntest du nur ein solches Spiel mit uns spielen? Helena, warum?“

Ich habe einfach nicht eingesehen, dass du alles bekommst. Den feschen Alexander Bretoni, die gute Anstellung, die zauberhafte Wohnung, das ist einfach zuviel, Die große Hochzeit mit allem was Rang und Namen hatte, die Hochzeitsreise, und dann Leandrah. Mutter war ja völlig aus dem Häuschen. Und ich rutschte wieder ein Stück nach hinten, sogar nach Michaels Frau. Glaubst du das macht Spaß? Da begann ich Rache zu schmieden. Du warst am Ende mit Leandrah tot, Michael schwer verwundet, fristet mehr oder weniger sein Dasein, und ich habe überlebt und neues Leben geschaffen, mit deinem Mann.“ Damit zeigte sie mit dem Zeigefinger auf Isabella. „Er gehört mir, denn unser Sohn ist aus meinem Leib geboren.“

Isabella taumelte, Alexander fing sie auf.

„Mein Herz“, flüsterte er dabei. „Unsere Hochzeitsnacht war dem Zauber der Liebe geweiht. Helena hingegen hat mich überrumpelt, sie hat mich ausgehungerten Mann benutzt und glaube mir, meine Gedanken waren bei dir. Nur so habe ich es überstanden.“

Sascha und sein Vater schluckten. Die Blicke, die Alexander dabei Isabella schenkte, zeigten dass die gesprochen Worte der Wahrheit entsprachen. Leandrah stürzte auf Helena zu, boxte diese. „Du bist böse, abgrundtief böse.“

„Hör auf du Kröte!“, fauchte Helena.

„Warum?“, wandte sich Helena an Alexander. „Warum bist du der Spur meiner Schwester gefolgt? Diese dumme Person, hat sogar ihr Hochzeitskleid und deinen Anzug mitgenommen, ich habe ihr noch gepredigt, sie solle nur das nötigste mitnehmen. Diese Familie dort wo sie untergekommen sind, die waren nicht vorgesehen als Endlösung. Nein, wie gern hätte ich zugesehen wie sie und Leandrah im Wald von den Hunden gejagt und gestellt wurden. Aber nein, sie schlägt neue Wege ein.“

„Du hast mich sehr verärgert liebste Schwester“, höhnte sie wieder. „Sehr verärgert. Es gab so keine Todesmeldung, ich musste daher deinen lieben Mann etwas länger in Gewahrsam belassen. Bevor ich ihn unter dem furchtbaren Schmerz die Todesnachricht überbringen konnte.“

In dem Moment war allen klar, dass Helena nie herausgefunden hatte, wann und wie ihre Schwester und ihre Nichte umgekommen waren.

„Du“, sagte Isabella leise. „Du hast mit deinem Tritt die Rüben ins Rollen gebracht und damit Leandrah, die stark fieberte und die ich mit meinem Körper zu schützen versuchte, getötet. Ich habe deine Worte gehört, deine Worte, das du Alexander für dich beanspruchtest, dass das alles von langer Hand geplant war von dir. Es war, als wenn du einen Dolch genommen hättest...“

„Nun“, erklärte Helena. „Wie ich schon sagte, im Krieg und der Liebe sind alle Mittel erlaubt.“

Simon und Sascha schüttelte es jetzt.

„Ich“, sagte Alexander jetzt. „Ich habe ebenfalls dort mein Leben verloren, nachdem ich mir von der guten Frau jene Stelle zeigen ließ, nicht durch eigene Hand, sondern durch englische Geschütze. Man hat mich auf eigenen Wunsch den ich am Tag zuvor äußerte, bei meiner Familie beigesetzt.“

„Wir...“ Er zog Isabella und Leandrah zu sich, umfing sie liebevoll. „... haben unseren Frieden gefunden.“

„Schön für euch“, fuhr Helena herum. „Aber weißt du, wie es zu jenen Zeiten war, ein Kind allein aufzuziehen? Hättest du nicht gern deinen Sohn, den letzten Bretoni kennengelernt?“

„Ich weiß nicht“, sagte Alexander ehrlich. „Du hast mich zum Beischlaf gezwungen, wie hätte ich damit leben können, wie hätte ich das, wenn ich ihn angesehen hätte, zur Seite schieben können, als dass nichts geschehen sei?“

Simon Bretoni weinte still, konnte indes was er hier und jetzt gehört hatte, ihn verstehen. Ben beugte sich runter zu ihm. „Haben Sie etwas mitgebracht, von ihrer Mutter?“

Er nickte. „Ja.“

Er griff in seine Jackentasche und holte ein kleines Notizbüchlein heraus. Ben nahm es entgegen, ging zu Iris, nahm ihr jetzt das Teil das sie von Sonja hatte aus der Hand. Ließ ihr Zeit.

Sie schaute ihn nach endlosen Minuten waidwund an.

„Mir ist schlecht“, sagte sie aufstöhnend.

Er drückte sie an sich. „Das glaube ich dir, aber wir wollen das heute zu Ende bringen. Meinst du, du schaffst jetzt den zweiten Teil auch noch, oder brauchst du eine kleine Pause?“

„Etwas zu trinken“, bat sie. Sonja kam, hatte ihr ein Glas kühlen Weißwein eingeschenkt. „Trink das.“

„Danke“, flüsterte Iris.

„Du bist gut Iris“, lobte Sonja sie. „Das muss einfach mal gesagt werden. Und Kopf hoch, du schaffst das.“

In kleinen Schlücken trank Iris das Glas leer, auch um etwas Zeit für die bevorstehende Etappe zu bekommen. Niemand drängte. Stattdessen schauten sich Erik, Ben und Thomas die Fotos an, die Sascha geschossen hatte, und wieder war das Phänomenen aufgetreten, dass die Bilder das widerspiegelten was einst war. Leandrah war neun Jahre, Isabella und Alexander so wie sie wohl ausgesehen hatten, wenige Tage vor ihrem jeweiligen Ableben.

Und auch Helena, gestiefelt und gespornt, wie um 1945.

„Das konnte anscheinend jetzt wirklich nur eine Bretoni Kamera, nutz die Zeit um die Bilder Malon zu überspielen“, riet Ben. Sascha nickte. Es war einfach merkwürdig. Obwohl Leandrah eine ausgewachsene Frau war, die er hier fotografiert hatte, war sie eindeutig auf den Bildern neun Jahre alt.

„Fertig“, sagte er nach einer Weile. „Malon druckt sie Stück für Stück aus und wird sie dann mir Ihrer Kamera abfotografieren.“

„Gut.“ Ben nickte zufrieden. Dann ging er wieder zu Iris. „Bereit?“

Sie nickte. „Ja.“

Ben drückte ihr daraufhin das Notizbüchlein von Helena in die Hand. Neugierig wie Iris war, blätterte sie darin herum.

„Oh, nächste Woche ist er ja schon, der Abiball von Simon. Ich bin so stolz auf ihn. Auch ohne seinen Vater ist er ein Prachtbursche geworden, die Mädchen verfolgen ihn mit den Augen. Er ist sehr selbstständig.“ Ihre Augen schweiften durch den Raum blieben an ihm, Simon hängen. Stand auf. „Nun mein Junge freust du dich auf deinen Abiturball? Du hast es wirklich alles geschafft, deine Noten sind erstklassig, die Welt steht dir offen. Hast du dir schon Gedanken gemacht was du werden möchtest?“

„Fotograf“, antwortete Simon, sich dessen erinnernd was er damals gesagt hatte.

„Wie mein Vater“, setzte er noch hinzu.

Sie lachte auf, ein warmes Lachen war es jetzt. „Was auch sonst, ein Bretoni wird immer Fotograf.“

„Du bist auch Fotografin“, sagte er. „Ja, ich habe meine Ausbildung aber erst gemacht, als du noch ein kleiner Junge warst. Ich wollte immer ganz viele schöne Bilder von dir haben.“

„Für welches der Mädchen hast du dich entschieden, auf den Ball zu gehen?“, fragte sie.

„Iris.“ sagte er leise verträumt. „Iris Bergener.“

„Sieh an.“ Sie wuschelte ihm im Haar. „Dann wünsche ich dir viel Spaß.“

Iris blätterte weiter in dem Notizbüchlein. Sechs Jahre später.

„Mutter ich muss mit dir reden. Ich möchte gern mehr über meinen Vater erfahren, kannst du mir etwas über ihn erzählen?“

„Ach Junge, ich habe dir soviel von ihm erzählt.“

„Warst du seine große Liebe?“, fragte Simon beharrlich nach.

„Aber natürlich, alle Bretoni haben immer ihre große Liebe geheiratet. Wie kommst du auf eine solche Frage?“

„Ich war letztens mal wieder bei Onkel Michael und Tante Sophia sprach davon, dass Papa Isabella geliebt habe. Wer ist das?“

„Niemals.“ Helena wurde heftig.

„Mich hat er geliebt, Isabella war...“ Jetzt verzog sich für einen Moment ihr Gesicht zu einem grausamen Lächeln, vorübergehend. „Ich habe ihm gezeigt, dass ich die einzig wahre bin, die ihn glücklich machen kann. Isabella ist schuld daran, dass dein Vater dich nicht aufwachsen sehen konnte. Und ich bitte dich diesen Namen nie, nie wieder zu erwähnen.“

„Ich hab mich daran gehalten“, sagte Simon jetzt. „Der Name schien ihr Schmerz zu verursachen und ich wollte ihr nicht weh tun.“

Vier Jahre später.

„Aber Simon, was sagst du, du willst heiraten?“

„Ja Mutter, ich habe Iris wieder getroffen, zufällig, es war dieser eine Blick und wir wussten jetzt kann uns nichts mehr trennen.“

„Bist du dir sicher, dass sie die Richtige ist? Bedenke, aus was für einen Elternhaus sie kommt“, warf sie ein.

„Wovor hast du Angst Mutter?“, fragte er. „Doch nicht vor dem Alleinsein. Du warst immer eine selbstständige Frau, die immer wusste was sie wollte. Du kannst reisen, dir die Welt ansehen und wir werden uns immer freuen dich zu sehen. Und zu ihrem Elternhaus, ihr Vater ist Lektor, das weißt du doch. Iris hat wie ich studiert und hat ihre feste Anstellung mittlerweile.“

„Was hat sie denn studiert, deine Iris?“, fragte sie nach. „Ach Junge, vielleicht bin ich auch nur ein bisschen eifersüchtig, vielleicht hätte ich dich gerne noch ein bisschen für mich allein behalten.“

„Iris ist Journalistin.“ Sagte er. „Wie alle Frauen der Bretonis außer dir, so hast du es  mir immer erzählt.

„Mutter, ich bin jetzt achtundzwanzig und ich fühle mich sehr wohl in der Lage zu heiraten.“

„Ich habe Iris gefragt und sie hat Ja gesagt. Das haben Iris und ich dann auch durchgezogen“, sagte er stolz. „Und als mir Iris dann im  Dezember 1976 erzählte das sie schwanger sei, war ich überglücklich. Mein Kind würde in einer intakten Familie aufwachsen. Wider Erwarten freute sich auch meine Mutter sehr. Als Sascha dann geboren war, versöhnte sie sich endlich mit Iris.“

Helena schaute Simon aufmerksam an. „Du bist alt geworden mein Junge.“

„Die Zeit bleibt nicht stehen“, erwiderte er. „Auch dein Enkel ist erwachsen und hat jetzt die Frau fürs Leben gefunden.“

Helena drehte sich um zu ihm. „Sascha, das freut mich von Herzen. Und wie ich sehe, bist du in der Tradition der Bretonis.“

„Ja, bin ich“, erklärte Sascha. „Und meine Zukünftige ist eine Journalistin wie Mama und...“

Er zögerte einen Augenblick. „... Isabella.“

Helena drehte sich zu ihm um. „Ich habe sie gesehen, in deiner Wohnung, ich habe sie gebeten um deinetwillen die Vergangenheit ruhen zu lassen.“

„Das...“, sagte Sascha. „... dürfte ein wenig schwierig werden, denn Anja ist die Reinkarnation von Isabella, aber das habe ich auch erst heute erfahren. Viel Oma, viel ist in letzten Tagen auf mich eingestürmt und ich kann es immer noch nicht fassen was du für eine Rolle damals gespielt hast.“

„Simon.“ Sie legte eine Hand auf die Schulter seines Vaters und eine an seine Wange. „Das, was ich aus meinem Tun bekommen habe, war es wert.“

„Wert?!“ Sascha heulte auf. „Du bist über Leichen gegangen, um das zu bekommen was du wolltest.“

„Das ist Vergangenheit, das war ein anderes Leben, mein Leben begann, als ich deinen Vater unter meinem Herzen trug.“

„Alles schön und gut“, entgegnete Sascha. „Du magst dich damit verändert haben. Aber Vergangenheit lässt sich nicht totschweigen. Und was ganz schwer wiegt, du hast deine Schwester auf dem Gewissen, die jetzt über die Reinkarnation meine Anja ist, die Frau die ich liebe.“

„Ich ahnte es, als ich sie bei dir sah. Deswegen bat ich sie ja auch, die Vergangenheit um deinetwillen ruhen zu lassen. Sieh es so, der Kreis schließt sich, sie bekommt den Enkel des Mannes den wir uns geteilt haben.“

Sascha schaute sie fassungslos an. „Geteilt? Du wagst es, von geteilt zu sprechen? Isabella war glücklich mit ihrem Mann, mit ihrer Tochter.“

„Na und?“ Jetzt reagierte sie wieder trotzig. „Warum sollte nur Isabella Glück haben? Mir, mir stand Glück ebenso zu. Und da es nicht zu mir kam, habe ich es mir eben geholt, was ist schon dabei, tun andere auch.“

Als Sascha etwas sagen wollte, legte sie den Finger auf seine Lippen. „Bedenke, hätte ich es nicht getan, wo wärest du jetzt wohl?“

Ohnmächtig, sich der Tragweite ihrer Worte bewusst, schwieg Sascha.

Alexander hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Jetzt trat er vor, ging zu Simon

„Dann bist du...“ Seine Stimme versagte.

„Genau“, mischte sich Helena ein. „Er ist dein Sohn. Durch meinem Leib, habe ich die Linie der Bretonis erhalten. Ich wollte es dir sagen das ich in anderen Umständen bin, als ich vom Arzt kam, aber da warst du bereits unterwegs und bist nie wieder gekommen.“

„Ich konnte nicht glauben...“ Alexanders Stimme versagte. „Als ich etwas suchte in deinen Sekretär, und sich die Schublade löste, die dein Geheimnis offenlegte. Wie erstarrt war ich... Keine Sekunde länger hätte ich mit dir unter einem Dach leben können.“

Simon schaute jetzt zu seinem Vater hoch. „Es ist gut das ich dich, wenn auch unter solchen Umständen noch kennenlernen darf. Es tröstet mich, dich als aufrechten Mann zu sehen, das war auch meine Maxime mein Leben lang. Dieses Denken hat, auch wenn du sie zu Recht verteufelst, meine Mutter in mich gepflanzt. Sie hat immer nur gut von dir gesprochen, sie hat allerdings nie die Dinge erwähnt, die hier und jetzt herausgekommen sind. Meine Frau würde dir auch gut gefallen und diese hat es wirklich schwer gehabt, von meiner Mutter anerkannt zu werden. Erst die Geburt unseres Sohnes Sascha, deines Enkels, hat sie einander näher gebracht.“

Dann stand Simon auf und umarmte Alexander.

„Einmal...“, flüsterte er, mit laufenden Tränen in den Augen. „Einmal will ich dich spüren.“

Auch in Alexanders Augen befanden sich Tränen, als er seinen Sohn umschloss. Als sich die beiden Männer voneinander lösten, lächelten sie. Simon winkte Sascha zu sich. „Das ist mein Sohn, dein Enkel.“

Alexander schluckte, trat dann auch auf diesen einen Schritt zu und umarmte ihn. Die Lilien auf ihrer Haut wurden warm, auch bei Erik und Ben.

Unwillkürlich fassten diese dorthin, spürten den Sog der Freundschaft der sie durch alle Zeiten trug, jetzt und immerdar. Einer für alle und alle für einen.

Jetzt trat Alexander einen Schritt zurück und streckte seine Hand aus, Isabella legte die Ihre hinein.

„Auch wenn ich Euch jetzt verletzen muss“, sagte er. „Dies ist die Frau die ich vom ersten Augenblick an geliebt habe und bis in den Tod, der uns jetzt wieder verbindet, liebe.“

Isabella, allein wie er ihren Namen aussprach, zeigte die Liebe die er für diese Frau empfand. Simon konnte ihn verstehen.

„Tante Isabella“, sprach er sie an. „Erst vor wenigen Tagen erfuhr ich von deiner Existenz. Mir ist sehr wohl bewusst, das erst dein Tod mich möglich machte und daher möchte ich dich um Verzeihung bitten.“

Isabella schmiegte sich an Alexander, richtete dann ihre Blicke auf Simon, antwortete: „Du brauchst mich nicht um Verzeihung zu bitten, du hast an dem, was geschehen ist keinen Anteil. Das Schicksal hat zugeschlagen, dieses lässt sich nicht aufhalten, nicht korrigieren, zumindest hat es mir Alexander wieder gebracht.“

Sie streckte jetzt ihrerseits die Hand aus und Leandrah legte die ihre hinein...

„Wir...“, fuhr sie fort. „... sind zusammen.“

Alexander hielt Isabella im Arm, ebenso jetzt Leandrah, ein Familienglück das nur so von innen heraus strahlte.

Simon schluckte, ebenso wie Sascha.

„Ich hätte gern eine Schwester gehabt“, sagte Simon leise.

„Und ich einen Bruder“, sagte Leandrah da. Sie schauten sich an und umarmten sich dann. Jetzt schaute sich Anja wieder um, ihr Blick fiel auf Helena. Sie ging auf sie zu, hielt sie mit ihren Blicken fest.

„Helena, der Kreis schließt sich. Ich Isabella, einst deine Schwester, werde durch die Reinkarnation als Anja die Frau deines Enkels.“

Helena hielt ihren Blick stand. „Dann soll es so sein. Ich sagte dir bereits in seiner Wohnung, er verbindet uns.“

„Das tut er“, flüsterte Isabella und wurde jetzt wieder zu Anja. Sie stellte sich zu Sascha, dieser griff nach ihrer Hand zog sie an sich. Küsste sie zärtlich.

Anschließend wandte er sich wieder seiner Oma zu. „Der Kreis ist geschlossen, sie hat schon Ja gesagt. Leandrah lebt mit Bastian zusammen, den du und Isabella als Alexander kannten. Bastian, Erik, Ben und mich verbindet eine Freundschaft die lange in die Zeit zurückgeht. Wir gehen, wenn wir das hier alles aufgelöst und die Schatten der Vergangenheit aufgearbeitet haben, einer guten Zeit entgegen.“

„Warum...“, fragte Helena. „... könnt ihr die alten Sachen nicht ruhen lassen?“

„Aufarbeitung“, erklärte Sascha. „Wir wollen Klarheit in unseren Familiengeschichten damit unsere Kinder keine unliebsamen Überraschungen mehr erleben. Und da bringst du uns auch nicht von ab.“

Helena trat auf Anja zu, griff nach deren Händen, legte sie zwischen ihre. „Mach ihn glücklich, darum möchte ich dich bitten.“

Anja schaute Helena an. „Das werde ich.“ Sie löste dabei ihre Hände aus denen von Helena und hängte noch dran: „Denn diesmal lasse ich mir mein Glück nicht von dir nehmen.“ Sie schmiegte sich bei diesen Worten an Sascha.

„Das tue ich auch nicht“, sagte Helena. „Denn mein Enkel ist unbelastet und sollte das Glück leben können das anderen verwehrt wurde.“

Iris taumelte nach diesen Worten. Erik eilte zu ihr, fing sie auf, presste sie an sich. Ben trat zu ihr, nahm das kleine Notizbüchlein, das Iris sich in ihre Jeanshosentasche gesteckt hatte, wieder. Streichelte sie sanft. „Danke Iris.“

Erik und er sahen sich über ihren Kopf hin an. „Sie war wirklich gut.“

„Ja das war sie“, bestätigte Ben.

Sonja zog aus dem kleinem Samtbeutelchen das Medaillon und legte es auf den Tisch. Jetzt konnten es alle sehen. Sonja hatte es auf ihrer Zeichnung schon sehr gut getroffen und die Veränderungen, die Sascha mit dem Bildbearbeitungsprogramm vorgenommen hatte nach dem Foto der Zeichnung, hatten es auf den Punkt gebracht. Leandrah schaute darauf.

„Mach Fotos“, flüsterte Ben Sascha wieder zu.

Leandrah griff nach dem Medaillon, legte es in ihre Hand, strich mit dem Finger der anderen Hand sanft darüber hinweg. „Das Medaillon der von Lohens.“

„Ja und nein“, flüsterte Bastian jetzt. „Dieses Medaillon ließ ich einst im Hause Anello für dich arbeiten, für die Vestalin, der mein Herz gehörte, für jene Frau auf die ich solange warten musste, bis ihr Dienst beendet war. Dieses Medaillon wird uns immer wieder vereinen, bis in alle Ewigkeit, da es das Pfand einer großen Liebe ist. Immer mal wieder im Laufe der Zeit verschwand es, tauchte unvermutet wieder auf und fügte uns beiden...“

Er hob ihr Kinn an. „... wieder zusammen.“

Seine Hand legte sich auf die ihre, verschränkte seine Finger mit den ihren, so dass sich das Medaillon zwischen ihren Händen befand. Dann küsste er sie.

Ben schluckte. Iris, die das wahrnahm, flüsterte Erik etwas ins Ohr. Dieser nickte, löste sich von ihr und zog auch Sascha hinter sich her zu Ben.

„Freunde...“, sagte Erik. „... sind wir für alle Zeiten. Keine Frau wird diesen Zustand ändern. Im Grunde hast du es gewusst und dir nur ein Stück verstohlenes Glück geholt.“

Ben schwieg, nickte nach einer Weile.

Iris ging zu Saschas Vater.

„Wenn ich...“, begann sie etwas hilflos. „... Ihnen zu viel zugemutet habe, dann tut es mir leid, ich kann wirklich nichts dafür, das Helena sich mich als Medium ausgesucht hat.“

Dieser schaute sie an.

„Sie haben Ähnlichkeit mit Ihr“, sagte er dann. „Sie sind wie meine Mutter rothaarig. Rothaarigen Frauen sagt man nach, dass sie kompromisslos lieben und das sie Hexen sind.“

„Oma war rothaarig?“ Sascha glaubte, er habe nicht richtig gehört.

„Nun...“, lächelte sein Vater. „... bei deiner Geburt war sie bereits weißhaarig. Sie war, als sie Alexander 1944 heiratete bereits 48. An sich war ich nach heutigen Maßstäben bereits eine Risikogeburt. Ihr Haar war schon weiß, als ich in die Schule kam.“

„Was wäre gewesen wenn Malon hier gewesen wäre?“, fragte Erik.

„Ist es diese Rothaarige die vorhin kurz über die Cam zu sehen war?“, fragte Simon.

„Ja“, bestätigte Erik.

„Keine Chance“, sagte Simon.

„Ihr Haar glich dem von Ihr.“ Er zeigte auf Iris. Somit war das auch geklärt.

Leandrah und Bastian hatten sich gerade von einander gelöst. Lächelten.

„Nun“, sagte Sonja. „Dann sollten wir morgen noch mal zur Oma fahren. Wir haben es ihr versprochen.“

 

 

 



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